Grenzenlos frei - weiter, wo der Wanderweg endet
© TVB Osttirol
Einen Schritt weiter gehen, die eigenen Grenzen ausloten, unerreichbare Höhen erklimmen – wer die Berge liebt, landet früher oder später beim Klettern. Denn einige der reizvollsten Berggipfel sind nicht ohne Handeinsatz erreichbar. Wie es weitergeht, wo ausgetretene Pfade enden? Wir haben es ausprobiert, im Kletter- paradies der Lienzer Dolomiten.
Wolkenumhangen und kalt liegen die zackigen Gipfel der Kleinen Laserzwand vor uns, während wir noch leicht verschlafen das felsige Seeufer entlangstolpern. Unbezwingbar, fremd und abweisend wirken die steinernen Wände. Dort sollen wir hinauf? Hochachtung und Verlockung, Furcht und Verlangen – wer gern Bergsteigen geht, weiß um die Faszination, die steile Felswände hoher Berge auf ambitionierte Wandersleute ausüben können.
Eine anziehende Hürde, die zu überwinden unsere heutige Aufgabe sein soll. Der Himmel schüttelt die Schwärze der Nacht ab, den Horizont überzieht ein milchig gelber Schimmer. Bald wird sich die Sonne über die Berggipfel kämpfen und die vom nächtlichen Regen feuchten Felswände trockenlegen. Wir blicken zurück zu unserem Startpunkt: Der Karlsbader Hütte, die als Stützpunkt für Wanderer, Bergsteiger:innen und Kletterer idyllisch inmitten der Lienzer Dolomiten thront. Beinahe unwirklich scharf zeichnet sich ihr Spiegelbild im glasklaren Wasser des Laserzsees ab. Die Schönheit dieses Fleckchens Erde zieht mittlerweile auch Tourist:innen und Influencer:innen an, die am Ufer des Bergsees instagramtaugliche Foto-Kompositionen kreieren. Sie liegen jetzt noch in ihren Betten, während in den Klettergärten rund um die Hütte bereits der Wettlauf um die besten Übungsrouten beginnt.
Dabei ist das Angebot an reizvollen und griffigen Felsen hier groß genug, damit jeder zum heißbegehrten Zug kommt. Denn die Lienzer Dolomiten sind die ideale Spielwiese für Kletterambitionierte in allen Schwierigkeitsgraden.
ERSTE SCHRITTE
Egal ob es einen aus der Halle oder aus dem Klettergarten ins alpine Gelände zieht oder als ambitionierten Wanderer immer häufiger in den Fingerspitzen juckt: Wer die ersten Kletterversuche im freien Gelände wagen will, muss zunächst einmal Grundlagen schaffen. Wir starten mit einer Trittschulung. "Viele Kletter:innen kommen heute aus der Halle. Sie sind am Fels ausgezeichnet unterwegs, aber beim Zustieg und Abstieg im alpinen Gelände tun sie sich schwer," erklärt Lisi Steurer, staatlich geprüfte Berg- & Skiführerin und Lokalmatadorin. Andere sind gute Bergsteiger:innen, aber kennen sich nicht mit Seil- und Sicherungstechniken aus.
Was muss man mitbringen, um ins Alpinklettern einzusteigen? "Zum Alpinklettern zieht es niemanden, der oder die zum allerersten Mal in den Bergen ist," meint Lisi, "Die meisten kommen vom Wandern, Klettersteiggehen oder eben vom Sportklettern." Anders als beim Sportklettern geht es beim alpinen Klettern nicht alleine um die klettertechnische Schwierigkeit. Vielmehr wird ein alpines Ziel oftmals über viele Seillängen anvisiert.
Für die Bergführerin ist es wichtig, sich erst einmal einen Eindruck zu verschaffen, wie gut sich die Kursteilnehmer:innen in alpinem Gelände bewegen. Noch am Abend bevor wir Geschick und Motorik am Fels testen, prüfen wir unsere Körperbeherrschung, Trittsicherheit und den Gleichgewichtssinn in der Ebene und auf losem Schotter. Mal schnell, mal langsam, aber immer hochkonzentriert tänzeln wir bei Nieselregen und Wind über den feuchten Boden, rutschige Felspassagen und loses Gestein. Erst dann geht es an die Seil-, Knoten- und Sicherungskunde.
HAND ANLEGEN
Wann endet das Bergsteigen und wo beginnt alpines Klettern? Der Übergang ist sicher fließend, liegt aber – je nach Können und Erfahrung – irgendwo zwischen dem III. und IV. Grad. Als Faustformel gilt: im I. Schwierigkeitsgrad braucht man eine Hand, im II. alle beide. Im III. und IV. Grad sind dann kürzere senkrechte Passagen oder kleine, aber gutgriffige Überhänge zu meistern. Für die Osttiroler Bergführer Helmut „Heli“ Mühlmann, Matthias Wurzer und den Südtiroler Felix Tschurtschenthaler, die uns bei unseren Kletterversuchen anleiten, gleicht eine Route im III. Grad sicher einem Spaziergang. Als Kletterneuling ist aber auch in diesen unteren Schwierigkeiten die Sicherung mit dem Seil unverzichtbar. Man sollte sich Zeit nehmen, sich mit dem Fels und steilerem Gelände anzufreunden.
Am Übungsfelsen werden wir im Standplatzbau, Seil-Handling und Klettergurt-Management geschult, bevor es an die ersten Kletterversuche im Nachstieg geht. Wie ein Wiesel flitzt Heli die noch feuchte Felswand hinauf. "Stand!", ruft er von oben, dann steigen wir nach. Echter Fels statt künstlicher Griffe. Der Unterschied zur Halle ist, dass das Angebot an Tritten und Griffen hier frei wählbar ist. Gleichzeitig definiert aber auch niemand, wo denn nun der nächste, beste Griff liegt. Das ist neu und knifflig – und macht Spaß.
Wir füllen den Tag mit Übungen und Theorie, entwickeln ein Gefühl für den Fels, das Seil und üben immer wieder die wichtigsten Knoten. Schon morgen soll es an die erste Mehrseillängentour gehen.
HOCH HINAUS
Am nächsten Tag wird es ernst: "Über zackige Grate und an griffigen Wänden zum Gipfelkreuz klettern", lautete die Beschreibung für die zwei Tage Kletterkurs rund um die Karlsbader Hütte. Die Grundlagen sitzen, nun lassen wir den Worten Taten folgen.
Heute steht eine alpine Mehrseillängentour auf dem Programm. Die Route mit dem originellen Namen „Bügeleisenkante“ gilt als DER Klassiker in den Lienzer Dolomiten. Die Kantenkletterei hoch zum 2.568 Meter hohen Gipfel hat eine Schlüsselstelle im IV. Schwierigkeitsgrad, wird aber dann nach oben hin immer leichter.
Von unten betrachtet wirken die zackenreichen Felswände für unsere ungeschulten Augen noch immer unbezwingbar. Doch der Trick ist, nicht die ganze Wand zu betrachten, sondern immer bis zum nächsten Griff, zum nächsten Tritt zu planen. Ein fester Stand, sicherer Halt, drei Punkte bleiben am Fels, während eine Hand oder ein Fuß nach dem nächsten kleinen Vorsprung sucht, an dem wir uns wieder ein kleines Stücken weiter in Richtung unseres Zieles schieben. "Kleine Schritte", rät uns Heli immer wieder, während er uns vom nächsten Standplatz aus sichert, denn diese sparen Kraft und geben Sicherheit.
ALPINES GENUSSKLETTERN
Das Besondere an dieser Art der Kletterei, die unsere Wanderrouten in Zukunft über steiles Gelände zum Gipfel verlängern soll: Wir klettern hier mit unseren Bergstiefeln. Wer vom Klettersteig zum alpinen Genussklettern gelangt, den mag das wenig verwundern. Wer aus der Halle oder dem Klettergarten kommt, muss sich erst einmal an das Klettern mit dicken Sohlen gewöhnen. Vertrauen finden ist hier, wie so oft bei alpinen Sportarten, der Schlüssel zum Erfolg. Vertrauen in den Grip der Sohle auf scheinbar trittlosen Platten, Vertrauen in das Material und Vertrauen in den/ die Kletterpartner:in. Dabei immer konzentriert und wachsam bleiben. Der zweite Schritt ist die Routine, denn nur durch Übung gewinnen wir beim Alpinklettern ausreichend Sicherheit und Erfahrung, um die Schwierigkeit unserer Routen langsam zu steigern. Heute können wir nur den ersten Schritt gehen. Mit Helis Hilfe durchklettern wir die legendäre Bügeleisenkante und werden mit spektakulären Weit- und Tiefblicken belohnt.
GIPFELKRAXELEI
Doch noch ist unser Ziel nicht ganz erreicht. Nach einer kurzen Pause lockt uns der Rote Turm mit seinem 2702 Meter hohen Gipfel und seinem 360 Grad-Panorama noch ein Stückchen weiter in Richtung Himmel. "Nur für Geübte" steht auf dem Schild am Einstieg zur Route. Nun, ein bisschen geübt haben wir jetzt zumindest schon.
Hinauf schlängeln wir uns durch den sogenannten Schneiderkamin. Dieser entpuppt sich als moderate Genussklettertour, die uns ohne weiteren Angstschweiß auf den markanten Felskoloss leitet. Die Routen auf den Roten Turm sind jedoch vielseitig genug, dass auch erfahrene Kletter:innen hier eine Herausforderung finden. Weite spüren, in die Ferne blicken, Gipfelluft atmen – danach geht es durch den steilen Schmittkamin, eine schmale Felsscharte auf der Nordseite des Roten Turms, zurück Richtung Hütte.
Während einige Teilnehmer:innen im klaren Laserzsee Abkühlung suchen, lässt der Rest der Truppe auf der sonnenüberfluteten Terrasse der Karlsbader Hütte die Erfahrungen der letzten zwei Tage Revue passieren. Kalt gelassen hat dieses Naturerlebnis niemanden, denn die gewaltige Kulisse der Lienzer Dolomiten alleine reicht aus, um unsere bergverliebten Herzen höherschlagen zu lassen. Dass wir diesen Felswänden in den letzten Tagen so nah sein durften, wie nie zuvor, bringt unser Blut nun richtig in Wallung. "Dort oben waren wir", können wir von jetzt an voll Stolz berichten und es war sicher nicht unser letztes Mal am Fels.
KARLSBADENER HÜTTE
266 Gipfel mit der magischen Drei vor den drei Ziffern: Osttirol ist Dreitausenderland!
Mit jeder Menge leichter Grattouren bieten die Lienzer Dolomiten die besten Voraussetzungen, die steile Welt Osttirols kennenzulernen.
Die Karlsbader Hütte liegt auf 2.260 Metern oberhalb des idyllischen Laserzsees. Die Schutzhütte der Sektion Karlsbad des Deutschen Alpenvereins ist der ideale Ausgangspunkt für alpine Genusstouren, ihre sonnenverwöhnte Terrasse der perfekte Ort, um sportliche Tage mit Blick auf die Osttiroler Berge ausklingen zu lassen.
KARLSBADERHUETTE.AT
KLEINE BEGRIFFSKUNDE
▶ HALLENKLETTERN: Wie der Name schon sagt, findet das Hallenklettern in einer eigens hierfür angelegten Kletterhalle statt. Perfekt, um erste Erfahrungen zu sammeln und langfristig die eigene Klettertechnik zu verbessern.
▶ SPORTKLETTERN: Es geht um den sportlichen Aspekt des Kletterns und das Erreichen eines höheren technischen Könnens. Sportklettern kann man sowohl in der freien Natur, in Kletter- gärten als auch in der Kletterhalle. In der Regel wird nur eine Seillänge geklettert.
▶ ALPINKLETTERN: Beim Alpinklettern steht das Erreichen eines alpinen Ziels, zum Beispiel eines Gipfels, im Vordergrund. Hierfür werden längere Routen oftmals über mehrere Seillängen (sog. Mehrseillängenrouten) durchklettert. Zwischen den einzelnen Seillängen wird ein Standplatz errichtet. Sind alle Kletterpartner:innen am Standplatz angekommen, startet der/die Vorstei- gende in die nächste Seillänge.
▶ KLETTERSTEIG (VIA FERRATA): Ein Klettersteig ist ein durch fest verankerte Sicherungsmittel wie Stahlseile, Stahlklammern und Trittleitern versicherter Weg. Gegen Abstürze wird nicht mit Seilen, sondern mit einem Klettersteigset gesichert.
▶ KLETTERGARTEN: Eine an natürlichen Felswänden angelegte Kletteranlage, die in der Regel Routen in unterschiedlichen Längen und Schwierigkeitsgraden umfasst. Wie die Kletterhalle eignet sich der Klettergarten ausgezeichnet, um Erfahrungen zu sammeln und an der Klettertechnik zu feilen.